Verantwortungsvolles Design im Web – von Enshittification zu Genug

von | Nov. 17, 2025 | Haltung & Nachhaltigkeit

Die schnelle digitale Welt

Wir leben in einer Zeit, in der alles schneller, leichter und zugänglicher wird. Jede Person kann heute mit wenigen Klicks ein Logo gestalten, ein Video produzieren oder eine Website aufsetzen. Social Media, Templates und KI-Tools eröffnen ungeahnte Möglichkeiten.

Gleichzeitig wächst der Berg an Inhalten, die oft generisch wirken und wenig Persönlichkeit haben. Mehr Inhalte bedeuten mehr Konkurrenz. Mehr Konkurrenz erzeugt Druck, noch mehr Inhalte zu produzieren. Ein Teufelskreis entsteht: künstliches Wachstum wird zum Standard, das unendliche „Mehr“ zur Selbstverständlichkeit.

In einer Ära von KI-generierten Inhalten und Plattform-Monopolen braucht es einen Gegenentwurf: Verantwortungsvolles Design, das bewusst verlangsamt und Menschlichkeit vor Algorithmen stellt.

Genug – Verantwortung statt Wachstum um jeden Preis

Es gibt Gegenbewegungen zu diesem ständigen „Mehr“, nicht nur im Design, sondern als grundsätzliche Haltung. Ein Beispiel dafür ist das Projekt aus meiner Praxis: enough.consulting, für das ich das Branding gestalten durfte. Diese Zusammenarbeit hat mir viel Inspiration und Zündstoff zum Nachdenken gegeben. Jess und Daniel, die Gründer:innen, helfen Unternehmen, differenzierter zu denken. Sie zeigen, dass Wachstum nicht um jeden Preis stattfinden muss und dass Werte wie Menschlichkeit, Nachhaltigkeit und Qualität im Mittelpunkt stehen können, um zukunftsfit zu sein. Diesen Gedanken teile ich – denn er gilt auch fürs Design.

Enough Consulting - 2 Poster Mockups auf einer Wand

Was ist Enshittification? Der digitale Zerfall erklärt

Cory Doctorow, kanadisch-britischer Journalist, prägte 2022 den Begriff Enshittification (oder Plattformverfall). Er beschreibt, wie Plattformen wie Facebook oder X/Twitter mit der Zeit an Qualität verlieren, weil Profit über Nutzererlebnis gestellt wird. Doctorow beschreibt den Prozess in drei Phasen:

1. Anlocken – Nutzer:innen werden durch ein gutes Angebot gewonnen, die Erfahrung ist positiv. Es macht Spaß auf der Plattform zu sein.

2. Ausnutzen – Die Plattform verschlechtert nach einiger Zeit das Nutzererlebnis, um Geschäftskund:innen Vorteile zu verschaffen (z.B. durch Werbung oder über Bezahlfunktionen).

3. Monetarisieren – Qualität und Nutzen werden weitgehend zugunsten des Profits reduziert. Das Ergebnis: massenhaft austauschbare Inhalte, Überladung mit Werbung – ein digitales Rauschen, das Aufmerksamkeit und Ressourcen verschlingt.

Für einen tieferen Einblick empfehle ich die Podcast-Episode „If I Ruled the World“ von Gillian Burke, in der Cory Doctorow im Gespräch erklärt, wie Plattformen verfallen, was er zu Monopolen denkt und was wir daraus lernen können.

KI-Slop & Fake Content: Warum menschliche Kreativität unersetzbar ist

Die Verschlechterung digitaler Plattformen wird durch KI-generierte Inhalte noch verstärkt. Unzählige Texte, Bilder und Videos fluten das Netz – oft fehlerhaft, austauschbar oder manipulativ. Manche Inhalte werden politisch instrumentalisiert oder finanziell ausgenutzt, ohne dass ihre Ursprünge transparent sind.

Tech-Konzerne nutzen dabei künstlerische Werke ohne Erlaubnis, um ihre Modelle zu trainieren, und verdienen damit Geld auf Kosten der Künstler:innen. KI scheint menschliche Kreativität billig ersetzen zu können – doch sie reproduziert nur, was bereits existiert.

Ich nutze KI – sie ist für mich ein Werkzeug unter vielen – etwa für Recherche, Struktur oder erste Ideen. Doch der Kern meiner Arbeit bleibt menschlich: die strategische Konzeptentwicklung, die wertebasierte Gestaltung und die echte Kreativität, die aus Handarbeit, Dialog, Intuition und Erfahrung entstehen. All das beschreibt einen Prozess, keinen KI-Prompt.

Das Äpfelchen passt gerade bestens zum Thema Enshittification. Es ist jedoch Teil einer Brand Key Visual Serie für Heilfasten – das Maskottchen ist von Hand gemacht, ganz ohne KI.

Social Media und das Problem mit den Algorithmen

Ich kenne Kolleg:innen, die monatelang versucht haben, sich den unberechenbaren Regeln von Algorithmen anzupassen – mit viel Zeit, Energie und oft enttäuschenden Ergebnissen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Algorithmen ändern sich ständig, Plattformen wie Instagram oder TikTok priorisieren bezahlte Inhalte, und die Überfülle an Content macht es schwer, aufzufallen und sichtbar zu werden. Manche User:innen kaufen aus Verzweiflung Likes über Anbieter. Das erhöht künstlich die Reichweite, ist aber unehrlich und ethisch fragwürdig. Die Gefahr auf Social Media besteht, dass man das Gefühl bekommt, nur noch für die Plattform zu arbeiten und weniger an seinem eigenen Traum. Die These der „Enshittification“ zementiert dieses Gefühl in der Realität. Die Nutzer:innenerfahrung sinkt, während Profite auf Kosten der Kreativen maximiert werden.

Wertvolle Alternativen zu Social Media

Statt sich von Algorithmen abhängig zu machen, bleiben immer noch klassischere und individuellere Wege analog oder digital:

Echte Verbindungen: persönliche Treffen, lokale Netzwerke, Empfehlungen

♥ Regionale Kooperationen: mit Unternehmen, die deine Werte teilen

♥ Eigene Kanäle: Newsletter, Website, Blog, geschlossene Communities, Patreon – wo du die Kontrolle hast

Natürlich decken diese Möglichkeiten bei weitem nicht alle Optionen ab, es sind jene Mittel, die ich selber bevorzuge. Neben der Unabhängigkeit von Algorithmen bieten diese Alternativen auch mehr Datenschutz. Im Vergleich zu großen Social-Media-Plattformen ist die Reichweite oft geringer, dafür hat man mehr Kontrolle, und kann langfristig Vertrauen aufbauen, weil sie auf ehrlicher Interaktion basiert. Denn am Ende zählt nicht die Zahl der likes – sondern ob die Arbeit die richtigen Menschen erreicht. Und ganz häufig passiert das analog oder in einem geschützteren digitalen Raum.

Ethisches Design und Entschleunigung

Die Entschleunigung des Designs ist eine Einladung zur Selbstreflexion: Was macht gutes Design heute aus? Es ist nicht die makellose KI-Ästhetik, der neueste Trend oder die schiere Masse. Wenn Gestaltung sich nur auf Sichtbarkeit, Likes und Reichweite richtet, verliert sie ihre Bedeutung.

Zugleich ist der digitale Raum nicht grenzenlos verfügbar – denn er braucht Orte, an denen Server stehen, Kühlgeräte, um Maschinen zu kühlen, Strom, um diese zu versorgen, Ressourcen der Erde, um die Geräte herzustellen. Jede digitale Entscheidung hat also auch eine ökologische Dimension. 

Illustration - beim Entschleunigen mit Tee und Katze

Die Enshittification des digitalen Raums ist ein Symptom eines tieferliegenden gesellschaftlichen Problems: dem Glauben, dass mehr immer besser ist und Aufmerksamkeit um jeden Preis erkauft werden muss. Ethisches Design setzt einen Gegenpol – bewusst, langsam und wertvoll. Es steht für Qualität statt Quantität, für Geschichten statt Schlagzeilen und für Inhalte, die inspirieren, statt zu überfordern.

Was kommt nach dem Plattformverfall?

Wie könnte der digitale Raum in Zukunft aussehen, wenn wir Verantwortung und menschliche Kreativität wieder mehr in den Fokus rücken?

Zwei Entwicklungen zeichnen sich ab:

• Unabhängige, dezentrale Communities
Digitale Räume, die Vertrauen, gemeinsame Werte und echte Interaktion fördern.

• Neue Wertschätzung menschlicher Kreativität
Menschen erkennen wieder den Wert echter Designer:innen und bevorzugen Qualität über Masse.

Design wird so wieder zu einer Arbeit mit Wert – nicht zum Nulltarif, sondern als handwerkliche und kreative Leistung. Das gilt übrigens für alle kreativen Berufe: Musik, Copywriting, Illustration und mehr.

Ein Blick in die Zukunft

Vielleicht entsteht eine neue Ära bewusster Gestaltung – eine, in der wir uns entschieden für menschliche Kreativität einsetzen, für Authentizität statt Automatisierung. Designer:innen schaffen dann nicht nur Ästhetik, sondern echte Verbindungen – zwischen Marken und Menschen, zwischen Tradition und Innovation.

Wir alle können entscheiden, ob wir Teil des digitalen Rauschens sein wollen – oder seinen Gegenentwurf gestalten. Es geht nicht darum, perfekt zu sein. Es geht darum, bewusst zu gestalten – für Menschen, nicht für Algorithmen.

Verantwortungsvolles Design beginnt mit genug.

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